Warum Nazis aus Nazis Sozialisten machen wollen

Die von rechtsextremistischer Seite regelmäßig vorgetragene Behauptung, dass Adolf Hitler ein Linksextremer war, und dass die historischen Ur-Nazis ja eigentlich Sozialisten – also: Linke – gewesen sind, ist ganz und gar nicht neu. Schon Franz-Josef Strauß und Edmund Stoiber (beide CSU) haben das behauptet. Dieser erbärmliche Versuch, die abscheulichen Verbrechen der Nazis den Linken in die Schuhe zu schieben, ist ein immer wiederkehrendes Muster in politischen Diskussionen. Neu ist, dass sich vor kurzem auch die überregionale konservative und vermeintlich seriöse Tageszeitung Die WELT aus dem Verlag Axel Springer SE an dieser Tatsachenverdrehung beteiligt hat.

Waren die Nazis Sozialisten?

Die Nazis waren Sozialisten, schließlich handelte es sich um die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei. Es steht sogar im Namen!

Ist das so?! Kann man aus dem Namen der Partei schließen, dass die NSDAP eine sozialistische, d.h. linke Partei gewesen ist? Die Rechtsextremistin Erika Steinbach (75), früher Mitglied der CDU und Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, heute Unterstützerin der Nazipartei Alternative für Deutschland (AfD), sieht es so:

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Die Rechtsextremistin Erika Steinbach twitterte im Februar 2012, dass die Nazis Linke gewesen sein müssen, weil es ja so im Namen steht.

Tatsächlich findet man insbesondere in den ersten Jahren nach der Umbenennung der Deutschen Arbeiterpartei (DAP) und nach der Gründung der NSDAP im Februar 1920 hier und dort Zitate führender Parteifunktionäre, die sich so anhören, als hätten da Sozialisten gesprochen. Auch die Symbolik in der NSDAP, wie beispielsweise die überwiegend rote Parteifahne, scheint doch irgendwie darauf hinzuweisen, dass es sich um eine linke Bewegung gehandelt haben muss. Wirklich?

Nun, schauen wir uns doch einfach mal an, wie Historiker das bewerten.

Der renommierte Geschichtswissenschaftler, Zeithistoriker und Autor Joachim C. Fest (1926 – 2006) hat eine Hitler-Biographie verfasst, die sich sehr detailliert mit Hitlers Leben, seinen Motiven und seiner Wirkung befasst hat. Dort können wir folgendes lesen:

„Das linke Etikett trug diese Ideologie vor allem aus machttaktischen Erwägungen
(…)
im Jahre 1930 war die NSDAP nach der Vorstellung Hitlers ’sozialistisch‘, um sich den Stimmungswert einer populären Vokabel zunutze zu machen (…)”

Joachim C. Fest, Hitler: Eine Biographie,
Propyläen, 1973, Seite 393

Offensichtlich waren die scheinbaren Bekenntnisse der NSDAP zu sozialistischen Ideen nichts weiter als opportunistische Augenwischerei und taktisches Manöver. Der Sozialismus-Begriff war für die Nazis logischerweise immer dann nützlich, wenn sie im Arbeiter-Milieu (Arbeiter stellten mit rund 50% Anteil an den Erwerbstätigen in der Weimarer Republik die größte Schicht) auf Stimmenfang gingen. Ziel von Hitler und somit der gesamten NSDAP war es, zu einer breiten, schichten-übergreifenden Massenbewegung zu werden. Sozialismus war halt eine Phrase unter vielen, ein Etikett, mit der sich unter anderem auch Hitler schmückte, wenn es ihm gerade aus wahltaktischen Erwägungen in den Kram passte.

War die NSDAP eine Arbeiterpartei?

Nun steckt ja auch der Begriff „Arbeiterpartei“ im Namen der NSDAP. War die NSDAP eine Arbeiterpartei? Was charakterisiert eine Arbeiterpartei? Nun, man könnte sagen, dass man dann von einer Arbeiterpartei sprechen kann, wenn die Sozialstruktur ihrer Mitglieder und Anhänger sich überwiegend aus Menschen aus dem Arbeiter-Millieu zusammensetzt. Wie war das denn bei der NSDAP?

Dazu der wohl bedeutendste lebende Historiker Deutschlands, Heinrich August Winkler:

„Die Wähler der NSDAP kamen, darüber sind sich Historiker und Wahlsoziologen einig, vor allem aus den Reihen der Bauern und der städtischen Mittelschichten. (…) Nach neueren Berechnungen amerikanischer Wahlforscher können höchstens 600.000 frühere SPD-Wähler zwischen dem Mai 1928 und dem Juli 1932, dem Höhepunkt der nationalsozialistischen Wahlerfolge, zur NSDAP übergewechselt sein. Die Verluste der bürgerlichen Parteien waren ungleich größer: Die beiden liberalen Parteien büßten 3,4 Millionen, die Deutschnationalen 2,2 Millionen, andere Rechtsparteien einschließlich der Wirtschaftspartei 3,1 Millionen Stimmen ein.“

Heinrich A. Winkler, Das Mär vom Sozi Hitler,
Die ZEIT Nr. 45/1979

Wie bereits oben erwähnt, war es das erklärte Ziel Hitlers aus dem Nationalsozialismus eine breite Massenbewegung zu machen. Daher entwickelte die NSDAP eine politische Taktik, um Wählerstimmen aus allen sozialen Schichten zu gewinnen. Das stark antisemitische Parteiprogramm wirkte aber besonders anziehend auf Handwerker, Facharbeiter, Landwirte, Kaufleute, Angestellte und Beamte. Diese waren besonders anfällig für die antisemitische Sündenbockproklamation, dass die Juden an der desolaten wirtschaftlichen Lage Schuld seien.

Schaut man sich die Zusammensetzung der Mitglieder nach Berufsgruppen an, so lässt sich feststellen, dass in den ersten Jahren der NSDAP bis zu ihrem vorübergehenden Verbot 1923 die Handwerker mit 20 % den größten Anteil stellten, gefolgt von den Kaufleuten (13,6 %), den Angestellten (11,6 %) und den Landwirten (10,4 %). Weitgehend resistent gegen die Nazis waren nur das katholische Milieu und das der sozialistischen Arbeiterschaft (Quelle: Jürgen W. Falter: Zur Soziographie des Nationalsozialismus. Historical Social Research Suppl. 25). Anhand dieser Faktenlage kann man wohl eher nicht davon sprechen, dass die NSDAP eine Arbeiterpartei gewesen ist.

Nun könnten die Steinbachs dieser Welt ja entgegnen: OK, der Sozialismus war bei Bedarf nur so eine Art Marketing-Etikett, und die NSDAP war faktisch auch gar keine Arbeiterpartei sondern wurde eher von der bürgerlichen Mittelschicht und Beamten gewählt. Man kann sie aber auch an ihren Taten bewerten. Hitler hat doch das Kindergeld eingeführt, also war er doch Sozialist, oder?

Haben die Nazis sozialistische Ideen und Konzepte umgesetzt?

Was ist eigentlich Sozialismus? Nun, es gibt viele unterschiedliche Strömungen und Bewegungen, die sich sozialistisch nennen, doch alle diese Strömungen verfolgen letztendlich ein- und dasselbe Kernanliegen:

Ziel des Sozialismus, als Vorstufe zum Kommunismus, ist die Überwindung (das heißt: Aufhebung) der kapitalistischen Produktionsweise, indem der Privatbesitz an den Produktionsmitteln abgeschafft und diese vergesellschaftet werden (Vergesellschaftung = Die Übernahme und Aneignung der Produktionsmittel durch die Gesamtheit).

Es geht also im Kern um die Enteignung von Unternehmern, um deren Besitz in Gemeinschaftseigentum zu überführen. Wie dieses zentrale Ziel erreicht werden kann, darüber gibt es in den zahlreichen sozialistischen Bewegungen durchaus sehr unterschiedliche Ansichten und Vorstellungen. Über das Ziel an sich, sozusagen der kleinste gemeinsame Nenner aller Sozialismen, herrscht jedoch Einigkeit.

Wie war das nun bei Hitler und der NSDAP? Wollte Hitler die Unternehmer enteignen? Hat er in den 12 Jahren als Reichskanzler irgendetwas in dieser Richtung unternommen?

Natürlich nicht!

Die prominentesten Vertreter sozialistischer Ideen in der NSDAP waren die Brüder Otto und Gregor Strasser. Gemeinsam mit dem späteren Reichspropagandaleiter Joseph Goebbels etablierten sie in den ersten Jahren einen antikapitalistischen, sozialrevolutionären Flügel innerhalb der Partei. Hitler, der inzwischen innerhalb der NSDAP das faschistische Führerprinzip durchgesetzt hat, hatte aber keineswegs vor ein sozialistisches System zu errichten. Und so kam es im Mai 1930 in Berlin zum unvermeidbaren Eklat zwischen ihm und den Gebrüdern Strasser:

„Als Strasser ihm nach bewegter Diskussion die Kardinalfrage stellte, ob im Falle einer Machtübernahme die Produktionsverhältnisse unverändert blieben, antwortete Hitler: ‚Aber selbstverständlich. Glauben Sie denn, ich bin wahnsinnig, die Wirtschaft zu zerstören? Nur wenn die Leute nicht im Interesse der Nation handeln würden, dann würde der Staat eingreifen. Dazu bedarf es aber keiner Enteignung und keines Mitbestimmungsrechtes.’”

Joachim C. Fest, Hitler: Eine Biographie,
Propyläen, 1973, Seite 392

Hitler machte letztendlich kurzen Prozess und eliminierte nur wenige Wochen später den „linken Flügel“ innerhalb der NSDAP und entmachtete die Strasserianer:

„Am 4. Juli verkündeten daraufhin Otto Strassers Zeitungen: ‚Die Sozialisten verlassen die NSDAP!‘ Aber kaum jemand folgte ihm, die Partei besaß, so stellte sich heraus, fast keine Sozialisten und überhaupt kaum Menschen, die ihr politisches Verhalten theoretisch gedeutet wissen wollten. (…) Das Ausscheiden Otto Strassers beendete nicht nur ein für allemal den sozialistischen Grundsatzstreit in der NSDAP, es bedeutete auch einen erheblichen Machtverlust für Gregor Strasser, der seither keine Hausmacht und keine Zeitung mehr besaß.”

Joachim C. Fest, Hitler: Eine Biographie,
Propyläen, 1973, Seite 394f

Hitler ließ Gregor Strasser im Juni 1934 beim sogenannten „Röhm-Putsch“ ermorden. Otto Strasser floh zunächst nach Österreich und ging später nach Prag ins Exil.

Das Hitler, der weder antikapitalistisch noch sozialistisch eingestellt war, früher oder später den „linken Flügel“ in seiner Partei ausradieren würde, war zu erwarten gewesen. Bereits zwei Jahre zuvor (1928) hatte Hitler dem sogenannten „unabänderlichen“ Parteiprogramm der NSDAP eine Erklärung hinzugefügt, um den Punkt 17 aus diesem Programm – eine Bodenreform, die die Möglichkeit schaffen sollte, Boden für gemeinnützige Zwecke entschädigungslos zu enteignen – zu präzisieren:

Erklärung.

Gegenüber den verlogenen Auslegungen des Punktes 17 des Programms der NSDAP von seiten unserer Gegner ist folgende Feststellung notwendig.
Da die NSDAP auf dem Boden des Privateigentums steht, ergibt sich von selbst, daß der Passus „Unentgeltliche Enteignung“ nur auf die Schaffung gesetzlicher Möglichkeiten Bezug hat, Boden, der auf unrechtmäßige Weise erworben wurde oder nicht nach den Gesichtspunkten des Volkswohls verwaltet wird, wenn nötig, zu enteignen. Dies richtet sich demgemäß in erster Linie gegen die jüdischen Grundspekulationsgesellschaften.

München, den 13. April 1928.
gez. Adolf Hitler.

Hier wird unmissverständlich klargestellt: Die NSDAP steht auf dem Boden des Privateigentums, und Enteignungen gibt es nur, wenn es gegen Juden geht! Nix mit Sozialismus.

In den 12 Jahren (1933 – 1945), in denen Hitler in Deutschland die allumfassende Macht als faschistischer Führer hatte, passierte dann auch nichts, was nur annähernd etwas mit Sozialismus zu tun hatte. Im Gegenteil: Hitler wurde vom Großkapital (z.B. Krupp-Stahl) finanziert. Die Nazis beschafften für die Unternehmer billige Sklaven (aus den eroberten Ostgebieten deportierte NS-Zwangsarbeiter) und kurbelten die Wirtschaft mit ihren Kriegsplänen an. Streiks wurden verboten und Arbeitsunfähige bzw. Arbeitsunwillige wurden ermordet. Enteignet wurden nur die jüdischen Unternehmer, aber nicht um deren Besitz zu vergesellschaften, sondern um deren Betriebe und Produktionsmittel zu Spottpreisen an „arische Unternehmer“ zu verscherbeln.

Es gab natürlich immer mal wieder soziale Gefälligkeiten, mit denen Hitler „sein Volk“, also: die arische Volksgemeinschaft, bei Laune halten wollte, wie z.B. das oben erwähnte Kindergeld, welches im September 1935 unter dem Namen „Kinderbeihilfe“ für „arische“ Familien eingeführt wurde. Und er war natürlich auch kein Befürworter einer liberalen oder sozialen Marktwirtschaft, wie wir sie heutzutage kennen. Hitler war ein faschistischer Diktator, dem sich auch die Wirtschaft unterzuordnen hatte, insbesondere in Hinblick auf die imperialistischen Bestrebungen und die Kriegsführung. Mit Sozialismus hatte das alles aber nichts zu tun.

Wenn also Rechtsextreme und Neonazis heutzutage argumentieren, dass die NSDAP eine linke Partei war, und Adolf Hitler ein Sozialist, so lässt sich das anhand der historischen Fakten eindeutig widerlegen. Solche Behauptungen sind nichts weiter als der erbärmliche Versuch dieser ekelhaften Typen, die abscheulichen Verbrechen der NS-Zeit dem politischen Gegner in die Schuhe zu schieben, um die eigene Weste rein zu waschen, und um eventuell mal wieder unter einem neuen Etikett (z.B. AfD) ein weiteres faschistisches Experiment dieser Art auf deutschem Boden wagen zu können.

„Die NSDAP war das organisierte und extremste Nein zu allem, wofür linke Parteien standen. Rechter kann man gar nicht stehen.”

Heinrich August Winkler